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Wort im Gleis11Herkunft, Gastspiel in Gleis11

„Herkunft“ ist ein programmatischer Titel. Wo komme ich her? Aus welchem Land? Was ist, wenn dieses Land nicht mehr existiert? Das ehemalige Jugoslawien ist in den 90er Jahren zerfallen. Der Krieg zerstörte nicht nur das Land, sondern auch die Identität der Menschen.

Saša Stanišić wurde 1978 in Višegrad, ehemals Jugoslawien, heute Bosnien-Herzegowina, geboren. 1992 flüchteten seine Eltern mit ihm nach Heidelberg. Seine Erfahrungen mit zwei Ländern, zwei Sprachen, zwei Identitäten verarbeitete er in seinem autobiographischen Roman „Herkunft“, für den er 2019 den Deutschen Buchpreis erhielt.

Der Abend beginnt mit Kolo, einem Reigentanz der Südslawen, der Schauspieler bricht aber schnell ab: „Bloss keinen Jugoslawien-Kitsch!“ Damit ist der Rote Faden der Vorstellung gesponnen: Gefühl, Rührung, Komik, Aufklärung.

Asim Odobašić spielt Saša Stanišić.

2022 09 Herkunft1

Zwar ist er in Deutschland geboren, seine Eltern aber stammen aus Bosnien. Er weiß also sehr genau, was er da spielt. Thomas Wenzel, Kölner Regisseur, Schauspieler, Schauspiellehrer und Musiker, hat den Roman dramatisiert und im Theater Box in der Kölner Südstadt inszeniert. Er konzentriert sich dabei auf den jugoslawischen Teil. Stanišićs Aufwachsen in Deutschland, das der Autor im Roman mit viel Witz und Ironie beschreibt, ist ebenfalls lesenswert – und wartet auf eine Dramatisierung!

Was also bedeutet „Herkunft“? Mindestens die Erinnerung. Zum Beispiel an das legendäre Spiel im Europapokal der Landesmeister zwischen dem FC Bayern München und Roter Stern Belgrad. Asim/Saša berichtet im Stil eines jugoslawischen Reporters, er brüllt die Namen der Spieler heraus: Darko Pancev, der das 1:1 geschossen hatte, Dejan Savicevic mit dem Siegtreffer, andere Stars wie Robert Prosinecki, Ljubko Petrovic. „Wir haben das Spiel als Jugoslawen gesehen, egal ob wir Serben, Kroaten, Bosnier oder Bosniaken (muslimische Bosnier) waren.“ Das Spiel fand am 10. April 1991 in Münchner Olympiastadion statt. Am 25. Juni desselben Jahres erklären Slowenien und Kroatien ihre Unabhängigkeit – der Krieg beginnt.

Diejenigen, die zu diesem Zeitpunkt erwachsen waren, haben alles in Jugoslawien erlebt: Geburt, Schule, zum ersten Mal verliebt sein, Studium, Berufseintritt. Nur sterben können sie nicht mehr in Jugoslawien.

Die Erinnerungen sind gemischt – und trügerisch: Saša Stanišić war bei den jungen Pionieren, bei einer Feier zugunsten des jugoslawischen Staatschefs Tito musste man eine Stafette weiterreichen, wie er sich erinnert, aus Holz. Er war stolz darauf, diese alte, historische, ehrwürdige Stafette berühren zu dürfen. Sein Vater belehrt ihn: Unsinn, die war aus Plastik, eine Kopie. Die alten Jugoslawen schwören noch heute: Unter Tito, dem Partisanenführer und unabhängigen Kommunisten ging es uns gut – auch das eine verklärte Erinnerung?

Mir großer Verehrung denkt Saša an seine Großmutter. Sie erzählt ihm dreimal in der Woche, wie sie Pero, ihren Mann kennengelernt hatte. Sie ist dement. Sie vergisst ihren Mann. Sie vergisst auch ihren Enkel. Man ist zu Tränen gerührt.

Asim Odobašić ist ein begnadeter Schauspieler. Er kann auch die komischen Seiten der Erinnerung glaubhaft zeigen. Die theatrale Umsetzung des Romans „Herkunft“ ist aufklärerisch, emotional, klug, die Inszenierung setzt auf denkende Zuschauer und verzichtet auf vordergründige Gags.

Lang anhaltender Applaus.

Bernd Woidtke